Familienberatung Christiane Yavuz Mannheim

Blog Beitrag 04

Embrace complexity! Eine Ode an die Ambiguitätstoleranz.

Lesezeit: ca. 4 Minuten

Ob Familienalltag oder Umgang mit Krisen: Warum es unser Leben leichter macht, wenn wir wahrhaftig akzeptieren, dass die Welt nicht einfach einfach ist. Ein Beitrag über das Aushalten können von Ungewissheiten, unangenehmen Gefühlen und Mehrdeutigkeit.

Momentan lesen wir ja viel davon, wie wir es schaffen, in diesen angespannten Krisenzeiten selbst gesund zu bleiben und weder in wilden Panikmodus, noch in fatalistische Gleichgültigkeit („ist doch eh alles sinnlos“) und Lähmung zu verfallen. Ich will mit diesem Beitrag unsere Aufmerksamkeit auf eine Fähigkeit (bzw. ein Persönlichkeitsmerkmal) lenken, die super hilfreich sein kann, wenn es darum geht, die eigene Haltung (weiter) zu entwickeln und dadurch eine gesunde mentale Balance (wieder) zu gewinnen. Und zwar egal zu welchem Thema oder Problem.

Eine Ode an die Ambiguitätstoleranz

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten (also auch: Unsicherheit, Ungewissheit) zu tolerieren. Und zwar tolerieren im Sinne von aushalten, erdulden, ertragen, akzeptieren.

Wenn ich das lese, wird mir bewusst, dass es schon oft extrem zu meinem Stresspegel beigetragen hat, wenn ich Mehrdeutigkeiten eben NICHT aushalten und einfach akzeptieren konnte. Weil mein innerer Drang danach, dass doch bitte alle sich meiner Perspektive anschließen sollen! …damit alles schön harmonisch ist. Und eindeutig. …so viel Energie kostete. Und dann kommt da die Ambiguitätstoleranz daher und spoilert das alles?? Erlaubt mir, an dieser Stelle Energie zu sparen??? Wie genial ist das denn!

Denn ein Blick aus ambiguitätstoleranter Perspektive kann mir in jeder schwierigen Situation helfen, mich und meine Wahrnehmung erstmal zu sortieren: Was ist gerade los? Welche/wessen Wirklichkeiten prallen hier gerade aufeinander? (Und wenn ja, wie viele?) Wenn das erstmal bewertungsfrei (!) auf dem Tisch liegt und SO SEIN DARF, kann ich viel selbstbestimmter steuern, wofür ich meine Energie denn nun aufwenden will, welche Gedanken und damit Gefühle Stress- oder Krisensituationen in mir auslösen und wie ich reagiere. Und komme so raus aus Starre und Opferhaltung. Yeah! Selbstwirksamkeit!

Die Mutter aller Stellschrauben für ein angenehmes Leben?

Eltern sind ja oft in der Alltagsstressfalle gefangen. In meinen Beratungen geht es dann darum, Perspektiven zu verändern, Stresspegel zu senken, Beziehungen zu stärken oder gesunde Strategien zur Bedürfniserfüllung zu entwickeln. Dabei lohnt es sich TOTAL, sich die eigene Ambiguitätstoleranz als Fähigkeit mal bewusst zu betrachten und den Blick dafür zu schärfen. Wie auch schon in anderen meiner Beiträge (z.B. hier): Ich versuche gern „Stellschrauben für ein angenehmeres Leben“ zu finden, an denen sich eigenverantwortlich drehen lässt. Und die Ambiguitätstoleranz ist dabei fast schon zur Mutter aller Stellschrauben geworden.

Eine gesunde Portion Ambiguitätstoleranz hilft dabei, aushalten zu können…

· dass mein Kind durch eine von mir getroffene Entscheidung frustriert ist (kein Fernsehen mehr, nix Süßes, nach Hause gehen müssen…).

· dass (Geschwister)Kinder sich streiten und es keine einfache Lösung dafür gibt.

· dass die/der Partner:in / die (Schwieger)Mutter / die pädagogische Fachkraft anders mit bestimmten Situationen umgeht, als ich das machen würde.

· dass es in den allermeisten Problemsituationen nicht DIE EINE Antwort oder Lösung gibt.

· dass ich nicht absehen kann, wie mein Kind auf gewisse Situationen reagieren wird.

· dass es keine einfachen (schwarz/weiß) Lösungen für die großen Weltprobleme (Klimakrise, Flucht, Krieg, Corona…) gibt.

· dass mein Nachbar eine andere Einstellung zum Thema XY hat.

· dass ich meine Kinder irgendwann in eine ungewisse Zukunft „entlasse“.

· dass es Krisen und Leid um mich herum gibt, während ich gleichzeitig mein eigenes Leben als glücklich und zufrieden empfinde.

· dass es Krisen und Leid um mich herum gibt, während ich gleichzeitig mein eigenes Leben (aus welchen Gründen aus immer) als leidvoll und schwierig empfinde.

 

Gerade das Leben mit Kindern ist ja permanent voll von Mehrdeutigkeiten, Widersprüchen, Unsicherheiten. Und wie gut oder weniger gut ich diese Zustände der Unklarheiten aushalten kann, trägt wesentlich dazu bei, wie angespannt oder entspannt ich mich selbst fühle. Aber, wichtig:

„Aushalten können“ meint nicht „zähneknirschend ertragen“, sondern „wirklich ok damit sein“!

Und genau dieses „ok damit sein“ lässt sich im Alltag schärfen, indem ich mir immer wieder bewusst mache, dass unsere Welt, die darin lebenden Menschen, ja schon allein meine eigenen inneren Anteile nunmal IMMER mehrdeutig, also ambig sind. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit ist total verständlich, weil dadurch alles so schön einfach wäre, aber so isses nunmal nicht. Und je „normaler“ ich diese Ambiguitäten finde (im Kleinen wie im Großen), desto unaufgeregter und souveräner kann ich damit umgehen. Ja, ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen:

Vielleicht FEIERN wir einfach mal, dass es Mehrdeutigkeiten IMMER gibt! Suchen sogar danach!

…und dabei hilft uns vor allem eins: NEUGIER. Indem ich NEU-GIERIG durch die Welt gehe und überall, wo mir Unbekanntes, Fremdes, Ungewohntes begegnet, eine „Och, guck-mal-da! Interessant!“-Haltung annehme, finde ich eine gesunde Balance zwischen den zwei Polen der Ambiguitätstoleranz: einengende Eindeutigkeitsradikalität auf der einen, völlig beliebige Gleichgültigkeit auf der anderen Seite.

Diese Neu-Gier funktioniert sowohl beim Blick auf das Verhalten des eigenen Kindes oder Partners („Och guck mal da, interessant! Der räumt die Spülmaschine ja ganz anders ein als ich! Welches System da wohl dahinter liegt?“) als auch beim Blick auf die aktuell größten Herausforderungen unserer Gesellschaft: Hier hilft Ambiguitätstoleranz dabei, mich nicht von vermeintlich einfachen Lösungen verführen oder blenden zu lassen, und der Gedanke, dass Lösungen für große Probleme IMMER differenziert und komplex gestrickt werden müssen, beunruhigt mich nicht.

Jetzt kann ich diese ambiguitätstolerante Haltung ja zuallererst mal mir selbst gegenüber schärfen und einfach bewertungsfrei anerkennen, dass schon in mir drin ganz unterschiedliche Stimmen sprechen:

Lust auf eine Ambiguitätstoleranz-Challenge?

Ich lade dich zu einem kleinen Spiel ein, pardon: eine Tschällensch ;-) Schau dir in den nächsten 3 Tagen einfach mal ein paar beliebige Situationen durch die „ambiguitätstolerante Brille“ an: Wie erklärst du dir, dass der Mensch an der Supermarktkasse vor dir sich Billigfleisch kauft? Was geht in dir vor, wenn in der WhatsApp-Gruppe jemand eine Meinung äußert, die du nicht teilst? Was löst es in dir aus, wenn du dir die Nachrichten über den Krieg anschaust? Wie viele innere Stimmen findest du in dir zu einem bestimmten Thema, einer aktuellen Frage in deinem Leben?

Jede unterschiedliche Perspektive bzw. Deutung, die du entdeckst, gibt 10 Punkte. Wohlwollende Deutungen geben 20 Punkte. Deutungen, die du auf den ersten Blick nur echt schwer nachvollziehen kannst, geben sogar 50 Punkte! Eine schwer nachvollziehbare Deutung auf einmal nachvollziehen können? Jackpot!

 

Shownotes: Beitrag u.a. inspiriert durch…

· https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrdeutigkeit-zu-leben-100.html

· https://www.swr.de/swr2/wissen/mut-zur-mehrdeutigkeit-swr2-wissen-2020-12-10-100.html

· https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-plaedoyer-fuer-die-vieldeutigkeit-der-welt-ambiguitaet-100.html

Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (Reclam)

 

Dieser Beitrag ist ein Beitrag zur Blogparade von www.familienleicht.de, die du hier findest: https://familienleicht.de/blogparade-weltfrauentag-frauen-und-muetter-im-business/

 

Danke für dein Interesse an meinem Blog! Und darüber schreibe ich: Über die Herausforderungen des Familienalltags und wie ich sie Schritt für Schritt mit meinen Lieblingstools wie Bedürfnisschlüssel und Beziehungsbrille gestalten kann. Immer wissend, dass der Entwicklungsprozess und das In-Verbindung-Sein mit mir selbst und meinen Herzmenschen für mich die wichtigsten, immer gültigen Ziele sind.

“Man muss die Welt nicht verstehen. Man muss sich nur darin zurechtfinden.”

Albert Einstein